Die kriminaltechnische Drogenanalytik (Polizei, Zoll, Rechtsmedizin) ist in den letzten Jahren vor neue Herausforderungen gestellt worden. Grund dafür ist zum einen das neu aufgetauchte Phänomen der Neuen Psychoaktiven Stoffe (NPS). Aber auch die inzwischen leichte Zugänglichkeit durch den Internethandel zu den synthetischen Drogen und weiteren Produkten, deren Verbreitung eigentlich geschützt sind. Dazu zählen verschreibungspflichtige Arzneimittel, Dopingmittel oder sogenannte Lifestyle-Drogen, wie z.B.: Viagra. Der Handel dieser Stoffe stellt nicht nur eine Bedrohung der Konsumenten dar, sondern auch der Personen, die mit der Ware während des Handels in Kontakt kommen (z.B. Zollbeamte oder Mitarbeiter des Versandhandels).
Derzeit erscheinen pro Woche 1-2 neue Substanzen auf dem Markt. Deren Struktur und Wirkung auf den Körper sind zunächst unbekannt. Beim erstmaligen Auftauchen einer neuen Substanz muss die chemische Struktur zunächst exakt bestimmt werden (Strukturaufklärung). Dies erfordert neben erfahrenem und gut ausgebildetem Personal auch eine Ausstattung mit sehr teuren Geräten, z.B.: hochwertige Kernresonanz- (NMR) und Massenspektrometer (MS). Solche Bedingungen sind nur in wenigen Kompetenzzentren gegeben, zu denen auch die Kriminaltechnik des Bundeskriminalamtes gehört. Labore, die nicht über diese Möglichkeiten verfügen, senden ihre für sie nicht identifizierbaren Stoffe an die Kompetenzzentren. Diese Zentren führen die Strukturaufklärung durch und stellen die analytischen Daten (Spektren) zur Verfügung. Mit diesen Spektren sind dann beim nächsten Auftauchen der Stoffe praktisch alle Labore in der Lage, durch „einfachen“ Spektrenvergleich die Identifizierung selbst vorzunehmen.
Die Grundlage für das hier vorgeschlagene Projekt „NPS VeriQon“ bilden die Projekte „NPS Data Hub“ und „ADEBAR“.
Eine der größten Herausforderungen bei der Charakterisierung und Identifikation von chemischen Substanzen ist die einheitliche und zuverlässige Validierung und Verifikation der analytischen Daten, um daraus gerichtsfeste Aussagen ableiten zu können. Der dringende Bedarf eines ganzheitlichen Validierungssystems wird in der Gemeinschaft immer wieder als die wichtigste Aufgabe für die nächsten Jahre beschrieben, so zum Beispiel im Maßnahmenpaket der ENFSI Drugs Working Group, oder auch bei dem im Januar 2021 durchgeführten „Online Symposium for Seized Drug Analysis“ mit über 2000 Teilnehmern. Das Problem besteht auch in vielen weiteren Bereichen der chemischen Analytik, wie bei der Forschung zu neuen Arzneimitteln, Aromen und Inhaltsstoffe für die Lebensmittel-, Getränke sowie Kosmetikindustrie.
Der globale Austausch der analytischen Daten der Labore bietet weltweit die Grundlage zur schnellen und sicheren Identifikation einer neuen Substanz. Der NPS Data Hub ermöglicht hierbei bereits jetzt schon den weltumspannenden Zugang zu einer umfangreichen Datenbank von psychoaktiven und anderen geschützten Stoffen. Jedoch muss der Datenaustausch noch stärker auf weltweit neu auftauchende Substanzen erweitert werden.
Eine weitere Herausforderung für die Kriminaltechnik stellt das Bestreben dar, die Identifizierung einer Substanz zwingend mit einem Unsicherheitsbetrag zu versehen. Falls dies überhaupt sinnvoll wäre, fehlt hierzu bisher jegliche statistische Grundlage.
Das Projekt NPS VeriQon möchte genau diese Herausforderungen zur schnellen und sicheren Identifikation psychoaktiver Substanzen angehen. Dafür soll ein ganzheitliches Validierungssystem unter Berücksichtigung der essentiellen und relevanten analytischen Techniken (NMR, MS, IR, Raman) entwickeln werden, was eine komplett neue Innovation darstellen würde. Als Grundlage für die geplante Datenvalidierung und -ausbau dient der „NPS Data Hub“, welcher bereits eine sehr gute, jedoch nicht validierte Datenbasis besitzt. Diese Daten der bereits durchgeführten Strukturaufklärungen sollen unter Verwendung von automatisierten Werkzeugen durch intelligenten Datenabgleich sowie künstlicher Intelligenz (KI) und quantenchemischer Simulationen validiert werden. Diese Validierung soll die gerichtsfeste Identifikation der Substanzen ermöglichen. Falls dies nicht durch den automatisierten Validierungsworkflow bei allen durchgeführten Strukturaufklärungen sichergestellt werden kann, soll für diese Fälle ein Expertenpool nachgeschaltet werden.
Die erforderlichen Grundlagendaten für das Vorhaben werden die Projektpartner, auch in Zusammenarbeit mit den internationalen Partnern der Kriminaltechnik, zuliefern (Akquise des Probenmaterials, manuelle Strukturaufklärung, Erzeugen von Vergleichsspektren, …). Die computergestützten Simulationen der Spektren dienen hierbei zum einen der Verifikation der experimentellen Daten und der Ergänzung fehlender oder noch ausstehender Messdaten und zum anderen der Charakterisierung potenziell auftretender neuer Substanzen vor ihrem Erscheinen auf dem Markt. Bedeutend dabei ist, dass quantenchemisch berechnete Spektren nur von elementaren Naturgesetzen abgeleitet sind, verschiedene Anordnungen beweglicher Moleküle (sog. Konformationen) ergeben ein „Gesamtspektrum“. Normalerweise müssen Fachleute diese Anordnungen generieren, prüfen und einen Kompromiss zwischen Rechenaufwand und Genauigkeit erzielen. Wir wollen diesen Prozess automatisieren, um Spektren für eine große Zahl von Strukturen bei vertretbarem Rechenaufwand ohne substantielle menschliche Eingriffe zu erhalten.
Die Entwicklung von Schnittstellen zu mobilen Spektrometern ermöglicht zudem die Identifizierung von potentiell gefährlichen Substanzen direkt am Einsatzort durch den Vergleich eines gemessenen Spektrums mit den gemessenen und simulierten Spektren im NPS Data Hub.
Ein weiteres Bestreben stellt die Entwicklung eines Analyseverfahren zur Unterscheidung von Stereoisomeren von Betäubungsmitteln („nicht geringe Menge“) dar.
Das Projekt NPS VeriQon beschleunigt somit auch die Strukturaufklärung und Identifizierung bisher unbekannter Wirkstoffe. Dadurch können diese Substanzen schneller und effektiver aus dem Verkehr gebracht werden. Die Validierungs- und Simulationsmethoden, die im Rahmen von NPS VeriQon entwickelt werden, können im Anschluss problemlos auf in weiteren Arbeitsbereichen in der chemischen Analytik eingesetzt werden.
Zudem soll erstmalig ein umfassender und valider Beitrag zur Diskussion um die Angabe von Unsicherheiten von Substanzidentifizierungen geliefert werden. Die Basis dafür stellt die bereits schon vorhandene und die im Projekt weiter ausgedehnte Datengrundlage dar. Dazu müssen Regeln aufgestellt werden, wann eine Identifizierung als eindeutig anzusehen ist. Es ist außerdem zu klären, ob eine Angabe von Unsicherheitsbeträgen überhaupt sinnvoll ist.
Falls ja, wäre zu klären, wie dieser valide zu bestimmen ist und was dieser für einen Sinngehalt widerspiegelt. Falls nein, müssten hierzu valide wissenschaftliche Begründungen geliefert werden. Diese Studie stellt somit einen wichtigen Beitrag für die forensische Analytik dar und wird helfen, den Beweiswert von Identifizierungen besser einordnen zu können und ein Tool bereitstellen, das durchgeführt Strukturaufklärungen untermauert.
Wir möchten den NPS Data Hub im Rahmen des Projekts NPS VeriQon dahingehend ausbauen, dass
Tatorteinheiten, Zoll und Logistikdienstleister verdächtige Stoffe (zum Beispiel NPS) schnell mittels Raman-Spektroskopie auf Gefährdungspotential und/oder Verdacht auf Straftaten untersuchen können,
Polizeibehörden im In- und Ausland Spektren neu auftauchender Subtanzen anhand validierter Spektren unserer Bibliotheken identifizieren können, um Gesetzesverstöße gerichtsfest beweisen zu können,
Irrtümer durch fehlerhafte Strukturzuschreibungen vermieden werden und
forensische Institute ein effektives, leicht bedienbares Hilfsmittel zur Strukturaufklärung neuer psychoaktiver Stoffe erhalten, dass die Leistungsfähigkeit standardisierter Strukturaufklärungssysteme übersteigt und die bestehende Datenbasis bestmöglich nutzt.
In der vorangestellten Abbildung ist der Zyklus für analytische Daten bei neu auftauchenden Substanzen (1) dargestellt. Zunächst sollte eine komplexe Strukturaufklärung in einem Referenzlabor unter Verwendung mehrerer Techniken (z.B.: NMR und MS) durchgeführt werden (2). Dies geschieht unter anderem auch im großen Maßstab durch das Projekt ADEBAR. Die analytischen Daten (Spektren) werden in den NPS Data Hub geladen und sind so sofort für alle Labore sichtbar. Es können zusätzliche Spektren auch von anderen Laboren dem Datensatz zugefügt werden (3).
Die zusätzlichen Spektren können mit gleicher Technik unter unterschiedlichen Messbedingungen oder mit einer komplett anderen Technik (z.B.: IR oder Raman) aufgenommen werden. Fehlende Spektren können außerdem durch quantenchemische Simulationen vervollständigt werden. Die im NPS Data Hub vorhandenen Daten sind in der Regel noch nicht als validiert anzusehen. Der Validierungsstatus ist hier aber eindeutig gekennzeichnet, um Nutzer über die Verlässlichkeit der Daten zu informieren.
Die Spektrenvalidierung soll durch die in diesem Projekt zu entwickelnden Werkzeugen durchgeführt werden (4). Zu entwickelnde Bewertungskriterien sollen anzeigen, ob Spektren als validiert anzusehen sind oder nicht. Die Validierung kann umso sicherer durchgeführt werden, je mehr Spektren unterschiedlicher Techniken für ein Sample zur Verfügung stehen. Zusätzlich sollen komplexe Datenvalidierungen durch auf Basis der Quantenchemie simulierte Spektren unterstützt werden, da hier keine manuellen Signal-Struktur-Zuweisungen notwendig sind.
Die validierten Daten werden dann in Spektrenbibliotheken für jede relevante Technik gesammelt und an die Labore zur stationären Nutzung im Routinebetrieb verteilt (5). Dies ist Aufgabe der ENFSI Drugs Working Group, in der der Antragsteller ebenfalls leitend vertreten ist.
In allen Laboren der Welt können dann durch den Vergleich mit den Spektren der Bibliotheken die Substanzen sicher identifiziert werden (6). Dabei können dann auch kostengünstigere Geräte eingesetzt werden, wie zum Beispiel IR- oder Raman-Spektrometer. Zusätzlich soll durch das Projekt NPS VeriQon zum ersten Mal die Möglichkeit geschaffen werden, während des Versands oder an einem Tatort verdächtige Proben mit mobilen Messgeräten auch auf die Vielzahl neuer Stoffe zu untersuchen, die in den letzten Jahren leichtfertige Konsumenten und auch mit der Logistik und Strafverfolgung beauftragte Berufsgruppen gefährden. Damit werden validierte Messdaten, angereichert mit berechneten Vergleichsdaten, für die Tatortarbeit und die Abwehr unmittelbarer Gefahren nutzbar gemacht.
Die bisher genutzten Plausibilitätsprüfungen haben den großen Nachteil, dass nur eine analytische Technik betrachtet wird, nicht aber das Gesamtbild der verschiedenen Messverfahren. NPS VeriQon bietet erstmalig eine eindeutige Strukturverifizierung durch Kombination mehrerer Techniken. Der Workflow soll somit dann einen eindeutigen Sachbeweis liefern, der auch vor Gericht Bestand hat (7).